Neue Entwicklungen bei der Massenentlassungsanzeige: Das sollten Sie beachten
Die ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige ist für die Praxis von wesentlicher Bedeutung. Ein Fehler im Anzeigeverfahren kann Einfluss auf die Wirksamkeit sämtlicher vorgenommenen Kündigungen haben. Das vollständige Fehlen einer erforderlichen Massenentlassungsanzeige hat stets die Unwirksamkeit der entsprechenden Entlassungen zur Folge. Ausgesprochene Kündigungen wären dann bereits aus diesem Grund unwirksam.
Anzeigepflichtige Massenentlassung
Eine Massenentlassung im Sinne des § 17 KSchG liegt vor, wenn infolge von Personalabbau die von der Betriebsgröße abhängigen Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG überschritten werden. Hierzu zählen arbeitgeberseitige ordentliche betriebsbedingte Beendigungs- und Änderungskündigungen, letztere unabhängig davon, ob der betroffene Arbeitnehmer das Änderungsangebot abgelehnt oder – gegebenenfalls unter Vorbehalt – angenommen hat (BAG, 20.2.2014 – 2 AZR 346/12, NZA 2014, 1069, 1071 f.). Entlassungen in diesem Sinne stehen gemäß § 17 Abs. 1 S. 2 KSchG anderen Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden. Dies entspricht unionsrechtlichen Vorgaben, wonach jede Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, die vom Arbeitnehmer nicht gewollt ist, als “Entlassung” gilt und umfasst insbesondere vom Arbeitgeber veranlasste Aufhebungsverträge und Eigenkündigungen des Arbeitnehmers.
Maßgeblicher Schwellenwert gemäß § 17 KSchG
Voraussetzung für die Anzeigepflicht ist, dass innerhalb von 30 Kalendertagen die folgenden Entlassungsschwellenwerte des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG erreicht werden:
- In Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern: Mehr als 5 Arbeitnehmer;
- In Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern: 10 % der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer;
- In Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern: Mindestens 30 Arbeitnehmer.
Unerheblich ist dabei, ob den Entlassungen ein einheitlicher Entschluss des Arbeitgebers zugrunde liegt oder ob sie auf einem neuen, eigenständigen Entschluss beruhen. Vor dem Hintergrund, dass jede Entlassung eine neue 30-Tages-Frist auslöst, sind sowohl frühere als auch spätere Entlassungen innerhalb von jeweils insgesamt 30 Tagen zusammenzurechnen. Die 30-Tages-Frist beginnt mit dem Tag der ersten Entlassung und berechnet sich nach §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 1 BGB.
Inhalte einer Massenentlassungsanzeige: „Pflicht- und Soll-Angaben“
Die wesentlichen Inhalte einer Massenentlassungsanzeige sind in § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG geregelt. Dabei wird im Grundsatz zwischen sogenannten „Pflichtangaben“ und „Soll-Angaben“ differenziert.
Die Pflichtangaben ergeben sich aus § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG und betreffen:
- den Namen des Arbeitgebers,
- den Sitz und die Art des Betriebs,
- die Gründe für die geplanten Entlassungen,
- die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
- den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und
- die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer.
Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG sind Angaben über:
- das Geschlecht,
- das Alter,
- den Beruf und
- die Staatsangehörigkeit
der zu entlassenden Arbeitnehmer.
Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung
Vor dem Hintergrund neuerer Entwicklung in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung sind folgende aktuelle Stolperfallen im Hinblick auf die Erstellung von Massenentlassungsanzeigen zu beachten:
1. BAG stell klar: Soll-Angaben sind nicht verpflichtend
Nachdem in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung zuletzt Uneinigkeit darüber bestand, ob eine Massenentlassungsanzeige ohne die „Soll-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer zur Unwirksamkeit der Kündigung führt (dafür etwa: LAG Hessen, Urteil vom 18. Juni 2021 – 14 Sa 1228/20; LAG Hessen, Urteil vom 25. Juni 2021 – 14 Sa 1225/20; dagegen etwa: LAG Düsseldorf, Urteil vom 15. Dezember 2021 – 12 Sa 349/21), hat das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 19. Mai 2022 – 2 AZR 467/21) mit seinem jüngsten Urteil nun für Klarheit gesorgt.
Nach zutreffender Auffassung des BAG führt ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige. Das BAG verwies dabei maßgeblich auf die gesetzgeberische Entscheidung. Nationale Gerichte dürften sich hierüber nicht im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung hinwegsetzen. Das BAG verwies zutreffend darauf, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung auch nicht geboten sei. Durch die Rechtsprechung des EuGH sei vielmehr geklärt, dass die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG vorgesehenen Angaben nicht gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) in der Anzeige enthalten sein müssen.
Damit erteilte das BAG dem Kurs des LAG Hessen eine Absage. Dieses hatte seine Entscheidungen noch damit begründet, dass die Massenentlassungsanzeige nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL alle zweckdienlichen Angaben enthalten müsse, die dem Arbeitgeber zur Verfügung stünden. Dabei seien nach richtlinienkonformer Auslegung auch die Soll-Angaben als zweckdienliche Angaben im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL anzusehen. Nur soweit dem Arbeitgeber die Mitteilung der Angaben nicht möglich sei, würde eine aufgrund des Fehlens der Soll-Angaben unvollständige Anzeige nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.
Die jüngsten Entscheidungen des LAG Hessen waren im Ergebnis überraschend, nachdem es auch bislang der herrschenden Auffassung in der arbeitsrechtlichen Literatur und auch der Rechtsprechung entsprach, dass die Massenentlassungsanzeige Soll-Angaben nicht zwingend enthalten müsse. Dies bestätigt auch die bisherige Praxis der Agentur für Arbeit, deren Formblätter für Massenentlassungszeigen lediglich verpflichtende Vorgaben für die Pflichtangaben enthalten, für Soll-Angaben jedoch lediglich eine Möglichkeit der Aufnahme in einem gesonderten Vordruck vorsehen. Dementsprechend enthält auch das Merkblatt für Arbeitgeber die Information, dass Soll-Angaben lediglich zusätzlich gemacht werden sollen.
Die Praxis kann nun aufatmen. Eine Kurskorrektur aus Luxemburg ist vorerst nicht zu befürchten. Denn das BAG hat die Frage dem EuGH nicht zur Vorabentscheidung vorgelegt, da die Erfurter Richter diese Frage als durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt ansehen. Für die Praxis bedeutet dies: Die Nichtbeachtung der Soll-Vorschrift des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG führt nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige.
2. Auch krankheitsbedingte Kündigungen sind Entlassungen im Sinne von § 17 KSchG
Das LAG Düsseldorf (Urteil vom 15. Oktober 2021 – 7 Sa 405/21) hat klargestellt, dass die Anzeigepflicht nach § 17 KSchG gegenüber der Agentur für Arbeit auch bei krankheitsbedingten Massenentlassungen besteht. Dies gebietet der Wortlaut der Norm, Systematik sowie Sinn und Zweck des Gesetzes. Der ausdrücklichen Empfehlung im Gesetzgebungsverfahren, personen- und verhaltensbedingte Entlassungen von der Anzeigepflicht auszunehmen und diese auf betriebsbedingte Entlassungen zu beschränken, sei der Gesetzgeber nicht gefolgt. Auch krankheitsbedingte Kündigungen gelten hiernach als „Entlassung“ i.S.d. § 17 KSchG und können damit eine Massenentlassungsanzeige erforderlich machen.
3. Fehlende Unterschrift der Anzeige führt nicht zur Unwirksamkeit von Kündigungen
Das LAG Köln (Urteil vom 2. Juni 2021 – 6 Sa 1247/20) hat zur Erleichterung vieler Arbeitgeber entschieden, dass das Fehlen einer Unterschrift unter der Massenentlassungsanzeige nicht zur Unwirksamkeit der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen führt. Das Wort „schriftlich“ in § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG meine nicht die Schriftform im Sinne von § 126 BGB; vielmehr sei auch die Textform ausreichend.
Vor dem Hintergrund, dass eine Bestätigung durch das Bundesarbeitsgericht noch aussteht, ist im Hinblick auf die mit einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige verbundenen Risiken für die Wirksamkeit der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen zu empfehlen, die Anzeige sicherheitshalber unverändert zu unterzeichnen und per Telefax bzw. im Original bei der zuständigen Agentur für Arbeit einzureichen, bevor die angezeigten Entlassungen vorgenommen werden.
Fazit
Die aufgezeigten Entwicklungen zeigen einmal mehr, dass sich die Rechtsprechung zu den Anforderungen an eine wirksame Massenentlassungsanzeige im Fluss befindet. Für Arbeitgeber stellen die hiermit verbundenen Rechtsunsicherheiten eine Herausforderung dar und begründen die Notwendigkeit, den Massenentlassungsanzeigeprozesses sorgfältig vorzubereiten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung empfehlen wir insbesondere Folgendes:
- Vorsorglich sollten Arbeitgeber bereits dann eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erstatten, wenn es vor der Durchführung von geplanten Entlassungen innerhalb von 30 Tagen zumindest naheliegt, dass der relevante Schwellenwert des § 17 Abs. 1 KSchG durch weitere Entlassungstatbestände überschritten wird. Wurde bereits eine Anzeige zu den geplanten (z.B. betriebsbedingten) Kündigungen bei der Agentur für Arbeit erstattet und sollen im Nachgang, aber innerhalb des relevanten 30-Tages-Zeitraums, weitere (z.B. krankheitsbedingte) Kündigungen erfolgen, sollte vor Ausspruch jeder weiteren Kündigung innerhalb des maßgeblichen 30-Tages-Zeitraums eine neue Entlassungsanzeige bzw. eine Nachmeldung der betroffenen Arbeitnehmer bei der Agentur für Arbeit erfolgen.
- Arbeitgeber sollten die Massenentlassungsanzeige bis zur höchstrichterlichen Klärung der Formfrage sicherheitshalber unterzeichnen und per Telefax bzw. im Original bei der zuständigen Agentur für Arbeit einreichen, bevor die angezeigten Entlassungen vorgenommen werden.
- Hinsichtlich der Soll-Angaben bleibt alles „beim Alten“. Diese sind für die Wirksamkeit der Anzeige nicht erforderlich, können aber zur Erleichterung der Arbeitsverwaltung ergänzend aufgenommen werden. Diesbezüglich empfiehlt sich unverändert eine Orientierung anhand des Merkblatts für Arbeitgeber der Agentur für Arbeit.
*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.